03.07.2012 16:59


Außer Rand und Schland! Gründe für das Scheitern der deutschen Mannschaft – Teil III: Das "Sieger-Gen"

Die Voraussetzungen für die vielleicht talentierteste deutsche Nationalmannschaft aller Zeiten waren perfekt: Die italienische Mannschaft war im Schnitt nicht nur 3 Jahre älter als die deutsche Mannschaft, sondern hatte außerdem 2 Tage weniger Pause zur Regeneration und dazu auch noch eine Verlängerung inklusive Elfmeterschießen in den Knochen. Dennoch verlor die deutsche Nationalmannschaft verdient. Bei der Suche nach den Ursachen für das ebenso überraschende wie deutliche Scheitern beschäftigten wir uns in den ersten beiden Teilen mit Löws Fehlern bei der taktischen Ausrichtung der deutschen Mannschaft sowie mit seinen offensichtlichen Fehlern bei seinen Personalentscheidungen. Im Dritten Teil geht es nun darum, warum Löws Fehlentscheidungen letztlich nicht entscheidend waren für die Niederlage und was statt dessen den entscheidenden Unterschied ausgemacht hat...

Optimale Personalentscheidungen sind hilfreich – aber keine Voraussetzung für Erfolg!

Wir schreiben das Jahr 1996 und der Fußball kehrte Heim nach England. Selten waren die Personalprobleme einer deutschen Nationalmannschaft bei einem großen Turnier so enorm wie bei dieser EM in England: Vor dem Finale gegen Tschechien wurden allen Ernstes Feld-Trikots für die Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck angefertigt, weil es zwischenzeitlich so aussah, als stünden nur 9 gesunde bzw. nicht gesperrte Feldspieler fürs Finale zur Verfügung! Zwei-drei Suboptimal besetze Positionen wie 2012 vor dem Spiel gegen Italien hätte man 1996 vor dem Halbfinale gegen England und vor dem Finale gegen Tschechien vermutlich als geradezu optimale Voraussetzungen gewertet! Der Rest ist Geschichte – Deutschland wurde mit dem allerletzten Aufgebot trotzdem Europameister.

Ruft man sich die EM 1996 noch einmal in Erinnerung, dann kommen einem vermutlich alle bisher aufgeführten Gründe für das Scheitern der deutschen Mannschaft bei der EM 2012 lächerlich und unbedeutend vor.

 

Die Gier zu gewinnen schlägt in engen Spielen fußballerisches Talent und Taktik

Allerdings stellt sich natürlich die Frage, was 1996 der entscheidende Faktor war, der es ermöglichte, dass eine Rumpf-Truppe letztlich Europameister wurde. Die Antwort ist ebenso einfach wie phrasenhaft: Es war der unbändige Wille von elf Männern zu gewinnen!

Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie Jogis Buben damit umgegangen wären, wenn sie auf einen ähnlich brutalen Gegner getroffen wären wie 1996 die deutsche Mannschaft gegen die Kroaten (Christian Ziege sprach noch Jahre später davon, dass dies das schmutzigste Spiel gewesen sei, das er je erlebt habe). Angeführt von Matthias Sammer hat sich der spätere Europameister von 1996 durch die Brutalität der Kroaten nicht etwa einschüchtern lassen, sondern wurden dadurch angestachelt und noch gieriger auf den Sieg!

Wie Jogis Buben mit einem Rückstand umgingen, mussten wir auf ernüchternde Weise miterleben: Sie brauchten erst einmal lange, um den Schock zu verarbeiten (während sie noch damit beschäftigt waren fiel auch schon das 2:0 für die Italiener), und anschließend fiel ihnen nicht mehr viel anderes ein als immer wieder hohe Bälle in den Strafraum der Italiener zu schlagen... Im deutschen Halbfinale 1996 ließ sich die deutsche Mannschaft hingegen keine Sekunde durch den Rückstand gegen damals hochklassige Engländer verunsichern.

 

Özil und das perfekte Beispiel für fehlende Gier nach Erfolg

Doch was ist eigentlich damit gemeint, wenn vom „Gier nach Erfolg“ die Rede ist? Möchte nicht jeder Spieler und jede Mannschaft gewinnen? Selbstverständlich. Aber "gewinnen wollen" ist nicht dasselbe wie die unbändige Gier nach Erfolg. Den himmelweiten Unterschied richtig erfassen kann vermutlich nur, wer selbst einmal Leistungssport betrieben hat. Für alle anderen hier ein Beispiel:

Keine andere Szene im EM-Halbfinale gegen Italien verdeutlichte aus meiner Sicht das Fehlen dieser Gier so deutlich wie diese Szene in der 19. Minute: Pirlo steht mit dem Ball am Fuß fünf Meter von Özil entfernt, Özil schaut eine gefühlte Ewigkeit zu Pirlo rüber ohne sich zu bewegen, bis dieser in aller Ruhe einen langen Ball auf Chiellini spielt, der darauf hin Cassano bedient... dieser flankt auf Balotelli – 1:0 für Italien.

Wäre Özil die kleine Lücke zu Pirlo zugelaufen, hätte Pirlo quer oder zurück zum Torhüter spielen müssen – aber er hätte nicht den letztlich tödlichen Pass auf Chiellini spielen können! Das Tor für Italien wäre nicht gefallen. Um es ganz deutlich zu sagen: Özil war zu faul und/oder sich zu schade, um 5 Meter in gemütlichem Lauf auf Pirlo zuzulaufen! Ein Spieler mit dem unbändigen Gier nach Erfolg hätte keine Sekunde darüber nachgedacht, sondern wäre aus einem inneren Drang heraus diese lächerliche Distanz auf seinen Gegner zugelaufen, anstatt ihn einfach stehend mehrere Sekunden anzuglotzen. Denn selbst meine Tante Erna wusste vor dem Spiel, dass man diesem Pirlo keinen Meter Platz und keine Sekunde Zeit lassen darf, da er sonst den tödlichen Pass spielen kann. Özil war schlicht nicht bereit, alles zu tun, was für den Erfolg notwendig gewesen wäre – und in diesem Fall bedeutet „alles“ eine läppische Kleinigkeit, die selbst in der 119. Minute selbstverständlich hätte sein müssen.

Wenn Spieler nicht bereit sind, verlässlich diese selbstverständliche Fleißarbeit zu leisten, kann eine Mannschaft noch so talentiert sein – sie wird nie eine Chance haben, ein großes Turnier zu gewinnen! So einfach ist das.

 

Lässt sich diese Gier nach Erfolg bis zur WM 2014 entfachen?

Vor dem EM-Sieg 1996 spielte die deutsche Nationalmannschaft zwei recht enttäuschende Turniere:
Bei der EM 1992 verlor die deutsche Mannschaft im Finale sensationell gegen den krassen Außenseiter aus Dänemark. Und bei der WM 1994 schied die Nationalmannschaft bereits im Viertelfinale gegen Bulgarien aus. In beiden Turnieren unterlag die Nationalmannschaft also gegen nominell schwächere Teams und ließ vor allem eines vermissen: Die Gier nach Erfolg! Nicht wenige sind der Meinung, dass der unerschütterliche Siegeswillen des Europameisters von 1996 auch damit zu tun hatte, dass Teile dieser Mannschaft in den beiden Turnieren zuvor durch das Stahlbad enttäuschender Niederlagen gegangen sind.

Vielleicht wiederholt sich diese Geschichte nun, wenn es einigen Nationalspielern gelingt, an den herben Enttäuschungen dieser Saison (Niederlage gegen Chelsea UND Niederlage gegen Italien...) zu wachsen, anstatt daran zu zerbrechen.

 

Fehlt es der Nationalmannschaft an Führungsspielern?

Auf der Suche nach den Gründen für die Niederlage gegen Italien wird in den Medien immer wieder auf das Fehlen von Führungsspielern verwiesen. Als Beleg für diese These könnte wieder der Europameister von 1996 angeführt werden: In Matthias Sammer hatte die deutsche Nationalmannschaft damals einen herausragenden Führungsspieler wie es ihn seither in Deutschland vermutlich nicht mehr gab (nicht wenige sahen in ihm damals eine Art „Spielertrainer“).

Aber nicht wenige sind der Meinung, dass der Ruf nach Führungspersönlichkeiten ein Reflex aus längst vergangenen Fußballtagen sei; statt dessen gehe im modernen Fußball der Trend hin zu flachen Hierarchien. Bundestrainer Löw gehört zu den prominentesten Vertretern dieser Position. Und sie haben aktuell die besseren Argumente auf ihrer Seite, denn besonders eine Mannschaft stellt derzeit immer wieder unter Beweis, dass flachen Hierarchien im modernen Fußball sehr erfolgreich sein können: Die spanische Nationalmannschaft.

Daher halte ich diese Diskussion um Führungsspieler für ziemlich fruchtlos. Zumal die Nationalmannschaft mit Bick auf 2014 in dieser Frage eh kein Problem haben dürften - aktuell zeichnet sich die Entstehung einer sehr starken Achse ab, die in dem kommenden Jahren das Rückgrad der Nationalmannschaft bilden könnte: Neuer, Hummels, Khedira und Reuss...

 

Weitere Beiträge zum Thema "Gründe für das Scheitern der deutschen Mannschaft":

Teil I: die Taktik

Teil II: die Personalentscheidungen



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10 Kommentare

13. Juli 2012 von PuhMuckl

EM und WM werden überbewertet. Sportlich war das doch ziemlich dürftig, was da in den meisten Spielen geboten wurde (und bei welcher EM / WM war das schon anders??). Hauptsache ein paar angemalte Fußballlaien können mal wieder in nationalen Gefühlen schwelgen, und ein paar korrupten Fußball-Funktionären wird wieder jede Menge Geld in den Hintern geblasen. Das ganze widert mich immer mehr an. Als Fußballfan hoffe ich, dass bald die Bundesliga und CL wieder los geht.


11. Juli 2012 von lurker

Ich hab mir das Spiel nochmal angeschaut und bin echt beeindruckt: Mir ist das damals nicht aufgefallen (und so gings wohl vielen), aber das mit Özil stimmt absolut!
Aber dieses Gegentor hätte natürlich nicht dazu führen dürfen, dass plötzlich die ganze Mannschaft wie paralysiet war. Bezeichnender Weise traf das besonders auf den Kapitän Lahm zu, der vor dem 2:0 unglaublich peinlich agierte. Trainer und Mannschaft haben es nach diesem Spiel einfach überhaupt nicht verdient, ins Finale zu kommen!


10. Juli 2012 von Balljunge

Das nenn ich mal eine gute Analüüüse - Kompliment! Das mit Özil seh ich genauso.


08. Juli 2012 von Stephan

@ FilmRiss:
Vordergründig war Hummels Fehler natürlich offensichtlicher - und in den Medien beschäftigt man sich natürlich besonders gerne mit dem offensichtlichen... ;) Der einzige Fußball-Experte, der darauf verwies, dass die Ursache für das 1:0 in Özils Arbeitsverweigerung lag, war Hans-Peter Briegel. Kompliment an ihn! Aber nun dazu, warum meiner Meinung nach Özil den letztendlich spielentscheidenden Fehler gemacht hat:
1.) Zunächst einmal ganz grundsätzlich: Das einzige, was für einen Profi-Fußballer schlimmer ist als aktiv einen Fehler zu machen, der dann zu einem Tor führt, ist durch völlige Passivität ein Tor zu verursachen - vor allem dann, wenn nur ein Minimum an Bemühung notwendig gewesen wäre. Aus meiner Sicht ist das schlicht unverzeihlich! Solche entscheidenden Kleinigkeiten machen den Unterschied zwischen einem talentierten Spieler und einem Weltklasse-Spieler.


08. Juli 2012 von Stephan

(Fortsetzung meines Kommentars zu FilmRiss)
2.) Dann zu der konkreten Situation: In dem Moment, als Pirlo mit dem Ball am Fuß Özil gegenüber stand, hatte der Italiener hinter sich keine ausreichende Absicherung, weshalb ein Ballverlust katastrophal gewesen wäre. Folglich hätte sich Pirlo kaum auf eine Eins-gegen-Eins Situation eingelassen und hätte den Ball seitlich oder zurück gespielt, sobald Özil angelaufen wäre. Für Özil wäre also nur ein wenig Joggen notwendig gewesen, um die Situation im Keim zu ersticken!
Als dann aber Cassano gegen Hummels den Ball bekommt, WEIL Özil völlig passiv blieb, sieht das Chancen-Risiko-Verhältnis für Hummels Gegenspieler ganz anders aus: Ein Ballverlust in der Nähe der Eckfahne des Gegners wäre für Cassano zwar ärgerlich aber nicht schlimm gewesen; gewinnt er jedoch den Zweikampf, ergibt sich fast zwangsläufig eine torgefährliche Situation. Folglich ist Cassano bereit, mit hohem Risiko und hoher Intensität in den Zweikampf zu gehen, weil das Risiko völlig auf Seiten seines Gegenspielers liegt.
Fazit: Während Özil den Zweikampf praktisch schon durch das blose Anlaufen gewonnen hätte, war es für Hummels sehr viel schwerer, seinen Zweikampf gegen Cassano zu gewinnen, da Cassano ein sehr viel höheres Risiko eingehen konnte. Deshalb und weil Hummels in diese Situation überhaupt erst durch Özils Passivität gekommen ist, war Özils Fehler der sehr viel gravierende - und rückblickend betrachtet DER Fehler, der das Spiel zum kippen brachte...


06. Juli 2012 von Stephan

@ Seggl:
Mit dem Hinweis auf Lahm hast du absolut Recht! Obwohl er insgesamt ein sehr solider und sicherer Außenverteitiger ist, ziehen sich relativ einfache spielentscheidenden Fehler durch seine Karriere. Sein Verhalten vor dem 2:0 hatte eher Bezirksliga-Nivea...

@ Joda:
Das Bild mit dem "fehlenden Sieger-Gen in der Mannschafts-DNA" trifft die Sache recht gut. Hinterher ist man zwar immer klüger, aber sicherlich ist deine Argumentation nicht ganz von der Hand zu weisen.

@ KinoKarle:
Das mit Reuss ist zugegebener Maßen eine gewagte Prognose von mir. Aber keine aus der Luft gegriffene. Ihr liegt zugrunde, dass Reuss bereits in ganz jungen Jahren erfolgreich Verantwortung in einer weitaus schwierigeren Situation übernommen hat: Als Gladbach wochenlang auf fast verlorenem Posten gegen den Abstieg kämpfte. Um es mal mit unserem Ex-Titan Olli Kahn zu sagen: Reuss hat schon eindrucksvoll bewiesen, dass er Eier hat; Schweinsteiger, Lahm und Kroos sind diesen Beweis bisher schuldig geblieben.

@ FilmRiss:
Zum Thema Özil dann morgen mehr...


05. Juli 2012 von seggl

Joda, du hast Recht: die Bayern haben im Moment nicht das "Sieger-Gen" in ihrer Mannschafts-DNA. In diesem Zusammenhang hätte eigentlich mal der Kapitän der Nationalmannschaft und der Bayern erwähnt werden sollen: Philipp Lahm.
- Im Finale 2008 gegen Spanien war er es, der sich trotz wesentlich besserer Position wie ein Anfänger von Torres im Laufduell hat wegdrängen lassen (ja, mit Stephan kann man sagen, dass bei Torres damals die Gier bei Torres wohl größer war ^^)
- neben anderen Böcken, die er bei den Bayern dieses Jahr geschossen hat, bleibt natürlich sein völlig peinlicher Angsthasen-Elfmeter im Elfmeterschießen gegen Real Madrid in Erinnerung;
- im Halbfinale gegen Italien war er vor dem 2:0 orientierungslos wie ein blutiger Anfänger und hat damit das Ausscheiden der Nationalmannschaft besiegelt. Sein Fehler fand ich viel krasser als der vor dem 1:0
Apropos 1:0 - da würd ich Stephan zustimmen, denn das von Özil war echt eine Frechheit, weil seine Aufgage eigentlich sehr einfach zu erfüllen gewesen wäre - und dann wäre nix passiert!


04. Juli 2012 von joda

Die wichtigsten Spieler der Nationalmannschaft sind auch der Kern jener Mannschaft, die vor kurzem gegen einen unterlegenen Gegner im Finale der CL nicht gewinnen konnte, weil der unterlegene Gegner ganz offensichtlich den Sieg mehr wollte. Keine Mannschaft der vergangenen Jahre hat eindrucksvoller demonstriert, dass sie das "Sieger-Gen" NICHT in ihrer Mannschafts-DNA hat, wie die aktuelle Mannschaft des FC Bayern München (deswegen brauchen sie auch so dringend einen Matthias Sammer, der nur aus diesem Gen zu bestehen scheint).
Wie kann sich da jemand darüber wundern, dass die Nationalmannschaft gegen Italien so erbärmlich abschenkt? Schließlich hat Löw beschlossen, dass die Nationalmannschaft durch einen Bayern-Block dominiert wird - damit hat er in Kauf genommen, dass die Nationalmannschaft mit dem Looser-Gen des Bayern-Blocks infiziert wird...


03. Juli 2012 von FilmRiss

Und damit schliesst sich der Kreis: Wenn der Trainer plötzlich eine Angsthasen-Taktik vorgibt, dann darf man sich nicht wundern, wenn manche Spieler plötzlich wie ängstliche Häschen übers Feld hoppeln!
Özil hat nicht nur im Halbfinale enttäuscht, sondern blieb im ganzen Turnier unter den Erwartungen. Aber Özils "Beitrag" zum 1:0 war doch deutlich geringer als der von Hummels und Badstuber.


03. Juli 2012 von KinoKarle

Hervorragende Analyse, Kompliment!

Marco Reuss als den offensiven Teil der neuen Achse im DFB-Team zu prognostizieren finde ich allerdings etwas gewagt. Schließlich gibt es da auch noch Özil, Kroos und nicht zuletzt auch Mario Götze.


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